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10vor10 zelebriert Gentech-Mythos

Die Geschichte ist so erschütternd, sie muss einfach wahr sein. Da bringen sich in Indien Jahr für Jahr rund 17 000 Baumwollbauern um, weil sie wegen hoher Schulden keinen anderen Ausweg als den Freitod mehr sehen. Schuld an den tragischen Suiziden sei der US-Agrokonzern Monsanto, der den Bauern überteuertes Gentech-Saatgut verkauft und sie in den Ruin treibt.

Lanciert wurde die Selbstmord-Story 2006 durch die indische Aktivistin Vandana Shiva. 2008 sprach die britische «Daily Mail» von einem «Gentech-Genozid», auch Prinz Charles machte die Gentech-Baumwolle für die Suizide verantwortlich. Die Geschichte tauchte in den folgenden Jahren regelmässig in den Medien auf – und wurde praktisch nie hinterfragt. Auch letzten Dienstag nicht, als «10 vor 10» die x-te unkritische Version der Geschichte ausstrahlte – notabene (und undeklariert!) ein gut abgehangener ARD-Bericht vom September 2013.

So tragisch jeder Suizid eines indischen Bauern ist – die Story hat ein Problem: Sie stimmt nicht, der Zusammenhang mit dem Gentech-Saatgut ist ein Mythos. Die Selbstmordrate unter indischen Bauern ist seit 1997 in etwa konstant, mit leichter Abwärtstendenz in den letzten Jahren; das Gentech-Saatgut wurde aber erst 2002 eingeführt und erst ab etwa 2006 grossflächig angebaut. Kommt dazu, dass seit der Einführung der Bt-Baumwolle – die Gentechpflanzen produzieren ein Insektengift und benötigen daher weniger Pestizide – die Erträge der indischen Bauern deutlich gestiegen sind und es ihnen wirtschaftlich und gesundheitlich generell besser geht. Und sowieso: Die Suizidrate ist in der Gesamtbevölkerung etwa doppelt so hoch wie bei den Bauern.

Der Mythos kaschiert die wahren Probleme: Die indische Landwirtschaft ist weit weniger produktiv als in vergleichbaren Ländern. Vielerorts fehlen Maschinen und Bewässerungssysteme, man verlässt sich auf den Monsun. Baumwolle braucht aber viel Wasser, Trockenheitsperioden können schnell zu Totalausfällen führen. Eine zweifelhafte Rolle spielen auch die Banken. In einzelnen Bundesstaaten verleihen sie kaum Kredite an die Kleinbauern. Das treibt diese mitunter in die Arme von Kredithaien, die Wucherzinsen verlangen.

Jeder, der den Mythos weiterzelebriert, ist daher mitschuldig, wenn die wahren Probleme in Indien nicht angegangen werden. Und wenn ein TV-Sender wie das SRF-Flaggschiff «10  vor 10» die Mär einfach gutgläubig weitererzählt, ist das zudem eine publizistische Bankrotterklärung. Das Hinterfragen, das kritische Nachhaken ist schliesslich die edelste aller journalistischen Aufgaben.