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Sie sind schon (fast) da

Eine Doktorandin untersucht im Rahmen eines Projektes das Leben der Fischotter in voralpinen Tälern

 © foerderverein-wildpark.de

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Von Nik Walter

Am nächsten kommen wir an diesem Tag Gessa. Das Fischotterweibchen ist knapp zehn Meter von uns entfernt, auf der anderen Seite der Mürz, einem mittelgrossen Fluss in der Steiermark (A). Gessa ruht dort unter Ästen versteckt, vermutlich mit einem Jungtier, in einer von hier aus unsichtbaren Höhle direkt am Flussufer. Die Biologin Irene Weinberger hat das Tagesversteck von Gessa eben mit einer Richtantenne geortet. «Das ist neu», sagt die Doktorandin vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich. «Hier schlief Gessa noch nie.»

Gessa gehört zu einer mittlerweile ansehnlichen Population von über einem Dutzend Fischottern in den Bezirken Bruck und Mürzzuschlag im Norden der Steiermark, einem Gebiet von etwa der Grösse des Kantons St. Gallen. Neun der äusserst scheuen Tiere tragen wie Gessa einen Sender in der Bauchhöhle, sodass Irene Weinberger und ihre meist weiblichen Assistenten die Wege und Aufenthaltsorte der eleganten Fischjäger jederzeit lokalisieren können, auch wenn sie die Tiere – wie wir heute auf unserer Tour – nicht oder nur selten zu Gesicht bekommen.

Otter wurden am Genfersee und in Graubünden gesichtet

Weinberger erforscht zwar «österreichische» Fischotter, doch eigentlich geht es dabei um die Schweiz. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit, dem Projekt Lutra alpina, will sie herausfinden, welche Lebensräume die Wassermarder beanspruchen, wie ihre Jagdgründe beschaffen sind, welche Fische sie am liebsten jagen, wo sie schlafen und ruhen, wie sie sich bewegen. All das im Hinblick darauf, dass in absehbarer Zeit Fischotter höchstwahrscheinlich auch wieder in die Schweiz zurückkehren werden. Und da stellt sich natürlich die zentrale Frage: Finden sie bei uns die für sie richtigen Lebensbedingungen?

Früher war der Fischotter Lutra lutra in der Schweiz heimisch, doch Ende des 19. Jahrhunderts forderte ein Bundesgesetz seine Ausrottung. Er schade der Fischerei, so die Begründung. Erst als sein Bestand von ursprünglich über 1000 Tieren auf etwa 100 geschrumpft war, wurde der Otter 1952 unter Schutz gestellt. Das war offensichtlich zu spät. 1989 verschwand das letzte Tier. Bis heute ist unklar, was zum Aussterben führte. Am plausibelsten scheint die Nahrungshypothese: Einbrechende Fischbestände entzogen ihm die Lebensgrundlage.

Doch nun steht der Fischotter wieder vor der Tür – eine Rückkehr scheint durchaus möglich. Letzten Winter erkundete ein Tier aus Hochsavoyen (südlich des Genfersees) schon zweimal Walliser Terrain, und vor etwa zwei Jahren ging ein Fischotter am Rhein bei Reichenau GR in eine Fotofalle. Der Bündner Otter wurde allerdings vorher und nachher nie mehr gesichtet. Und dann gibt es noch die Geschichte der zwei Fischotter, die beim Aarehochwasser 2005 aus dem Tierpark Dählhölzli ausbüxten, in der Freiheit drei Junge zeugten, aber bis auf ein Jungtier alle wieder eingefangen wurden oder verendeten (siehe Artikel S. 60).

Fischotter sind Einzelgänger, jedes Individuum beansprucht ein ziemlich grosses Territorium: ein Männchen etwa 30 Kilometer Flusslauf, ein Weibchen ca. 20 Kilometer, wie Weinbergers Untersuchungen zeigen. In der Steiermark leben in jedem Seitental der Mürz (dem Haupttal) eines oder höchstens zwei Tiere. Das hat zur Folge, dass die Männchen teils beachtliche Wege unter die Füsse nehmen müssen, wenn es sie nach einem Weibchen gelüstet.

Für ein Weibchen überwindet Otter Dan einen Berg

Dan zum Beispiel, das Männchen aus dem Thörlbach, scheut für Weibchen keinen noch so beschwerlichen Weg. Das Thörltal hat, wie die ganze Gegend, einen voralpinen Charakter, mit steilen bewaldeten Flanken. «Es erinnert mich an das Diemtigtal im Berner Oberland», sagt Irene Weinberger. Zweimal schon hat sie Dan auf einer nächtlichen Exkursion über die steilen Abhänge ins benachbarte Lamigtal, wo Alena wohnt, verfolgt. 400 Meter den Berg hoch kletterte Dan, auf der anderen Seite wieder hinunter, dann 20 Kilometer dem Fluss entlang bis zu Alena und am selben Tag alles wieder zurück. «Wir waren sehr erstaunt über diese Leistung», sagt Weinberger.

Sowieso, die Fischotter überraschen Weinberger immer wieder, auch nach zwei Jahren Feldarbeit. Auch heute. Normalerweise ruhen die nachtaktiven Raubtiere tagsüber, doch um 9:30 Uhr an diesem Morgen ist Dan noch munter. Wir verfolgen ihn eine Weile im Auto anhand der Sendersignale und orten ihn in einem unzugänglichen Flussabschnitt. Später an diesem Tag wiederholt sich das Schauspiel mit einem anderen Männchen, Ivo aus dem Mürztal. Er ist ebenfalls purlimunter, vermutlich am Jagen. Ihn sehen wir aber genauso wenig wie Fee, die mit ihrem Jungtier an einem idyllischen See campiert und sich nur durch ihren Sender verrät.

Die Fischotter in der Steiermark sind von Osten her zugewandert, vermutlich aus Tschechien. Offensichtlich finden sie hier Lebensbedingungen vor, die ihnen behagen. Selbst im stark besiedelten lang gezogenen Mürztal mit einiger Industrie und viel Gewerbe fühlen sie sich so wohl, dass hier mindestens drei Tiere leben: Hans, Gessa und Ivo.

Ein Hauptgrund für ihr Wohlergehen ist das offensichtlich gute Nahrungsangebot. Denn die bis zu 1,40 Meter grossen Otter verspeisen jeden Tag etwa ein Kilo Fisch – das entspricht rund einem Zehntel ihres Körpergewichts. Beim Nahrungsangebot spielen die verschiedenen Fischzuchten und -teiche, die wir auf unserer Tour zu Gesicht bekommen, vermutlich keine unwesentliche Rolle. Die Flüsse und Bäche werden jedenfalls für die Fischer regelmässig mit Forellen und anderen Fischen besatzt. Davon profitieren auch die Otter.

Haben Fischotter auch in der Schweiz eine Zukunft?

Der «grösste natürliche Feind» der Otter ist der Fischzüchter. Immer wieder kommt es vor, dass ein Tier nächtens eine Zucht oder einen Teich besucht und teils wüste Spuren hinterlässt. Um die erzürnten Besitzer zu beruhigen, muss Weinberger dann ihr ganzes diplomatisches Geschick einsetzen. Sie zeigt den Züchtern auf, dass sie die Anlagen mit kleinem Aufwand – drei Elektrodrähte nahe über dem Boden reichen – effektiv schützen können. Mit dieser Strategie hatte sie schon einigen Erfolg, wie wir uns bei einer Fischzucht im Stübmingtal überzeugen können: Seit der Zaun steht, gab es dort keine Otterbesuche mehr.

Seit zwei Jahren spürt Weinberger den Mürztal-Ottern nach. In dieser Zeit spulte sie Tausende von Kilometern mit dem PW ab und sammelte unzählige Kothäufchen und GPS-Daten. Nun neigt sich das Projekt Lutra alpina – es wird von der Stiftung Pro Lutra mit Geldern des Zürcher Tierschutzes, des Zoos Zürich und anderer Donatoren finanziert – dem Ende zu. Dieser Herbst ist der letzte für Weinberger im Feld. Dann geht es zurück nach Zürich, an die Uni, um all die Daten auszuwerten – und letztlich die Frage zu beantworten: Gibt es eine Zukunft für den Fischotter in der Schweiz?

Ein paar Anhaltspunkte hat Weinberger jetzt schon. So sind ihr in der Steiermark die vielen Asthaufen in Ufernähe aufgefallen, die den Ottern als bevorzugte Verstecke dienen. Ein Student hat dazu in der Schweiz einen Vergleich angestellt – mit einem überraschenden Resultat: «Es hat bei uns mindestens so viele Asthaufen.» Solche Resultate und auch die Tatsache, dass die österreichischen Otter in einem dicht besiedelten Gebiet leben, stimmen Weinberger optimistisch: «Wenn Sie mich fragen», sagt die Biologin, «der Fischotter hat sehr wohl Platz in der Schweiz.»

(Erschienen in der SonntagsZeitung vom 7.10.12)