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Das Geheimnis der «Chêne Napoléon»

Das Erbgut der Lausanner Eiche birgt viele Überraschungen – es unterscheidet sich von Ast zu Ast

La Chêne Napoléon auf dem Campus der Uni Lausanne

La Chêne Napoléon auf dem Campus der Uni Lausanne

Imposant steht sie da, kräftig und gesund, wie ein Monument, an dem die Zeit scheinbar spurlos vorbeigegangen ist. Seit über 200 ­Jahren prägt die 30 Meter hohe «Chêne Napoléon», die Napoleon-Eiche, als Wahrzeichen den Campus der Uni Lausanne (Unil) am Genfersee, auf dem Gelände des ehemaligen Landguts von Schloss Dorigny. «Ich war schon als Student von der Eiche fasziniert», sagt der Botaniker Philippe Reymond.

Heute ist Reymond Professor an der Uni Lausanne. Schaut er aus seinem hellen Büro, verdeckt nur ein kleines Wäldchen den direkten Blick auf die gut 100 Meter entfernte Stieleiche (Quercus robur) – und damit auch auf eines seiner aktuellen Studienobjekte. Die «Chêne Napoléon» ist für den Pflanzen-Molekularbiologen nämlich mittlerweile mehr als ein reines Faszinosum; er will den Baum genetisch analysieren und dabei heraus­finden, wie stark sich das Erbgut (Genom) in verschiedenen Teilen des Baumes unterscheidet. «Ist es überall der gleiche Baum?», fragt Reymond.

Nur wenige Bäume wurden genetisch untersucht

Reymond tat sich daher vor gut zwei Jahren mit fünf anderen Professoren aus Lausanne zusammen, um ein Projekt zu starten. Sie nannten es «Napoléome», eine Kombination aus dem Namen der Eiche und dem Wort Genom. Die Napoleon-Eiche, so das Ziel des Lausanner Teams, soll dereinst weltweit der genetisch am besten untersuchte Baum werden. Bislang haben Forscher erst von wenigen Bäumen das Erbgut entschlüsselt: von einer Pappel, der Gemeinen Esche, Gummibaum, Apfel, Birne, Pfirsich oder der Fichte.

In einem ersten Schritt widmete sich das Napoléome-Team dem wahren Alter der Eiche. Überliefert ist, dass der damalige Guts­besitzer Etienne-François-Louis de Loys die Eiche im Jahr 1800 gepflanzt haben soll, und zwar aus Anlass des Zwischenhalts der Truppen Napoleons auf deren Italien-Feldzug. Doch das stimmt so nicht, wie eine Jahrring-Analyse zeigte, die Reymond in Auftrag gab. Die Eiche war demnach schon 22-jährig, als Napoleon das Landgut Dorigny besuchte.

Nachdem diese Frage geklärt war, konnten sich Reymond und Co. ihrem eigentlichen Ziel widmen: der Erbgutanalyse. Dazu schickten sie erfahrene Kletterer in den Baum, um von möglichst vielen verschiedenen Stellen Proben zu sammeln. Sie entschieden sich dann, vorerst zwei Proben genauer zu analysieren und zu vergleichen – eine von ganz oben, die andere von einem Ast ganz unten. Die Idee: Je weiter entfernt die Proben, desto mehr unterschiedliche Mutationen können sich im Erbgut der Zellen über all die Jahre angesammelt haben.

Erste Resultate liegen nun vor. So umfasst das Erbgut der Stiel­eiche etwa eine Milliarde Basenpaare. Es ist damit etwa ein Drittel so gross wie das menschliche Genom, aber zehnmal grösser als dasjenige der Acker-Schmalwand, einer genetisch sehr gut untersuchten einjährigen krautigen Pflanze. Interessant ist aber vor allem die Anzahl Gene: 50 000 fanden Reymond & Co. im Genom der Stiel­eiche – das sind doppelt so viele wie im menschlichen Erbgut.

Die Eiche ist das Wahrzeichen des UNIL-Campus

Die Eiche ist das Wahrzeichen des UNIL-Campus

Viele dieser Gene dienten der Abwehr von Schadorganismen wie Pilze, Bakterien oder Insekten, sagt Reymond. Denn die Bäume könnten ja nicht einfach davonlaufen, sondern müssten sich anderweitig wehren, etwa durch eine hohe Mutationsrate in den Abwehrgenen. «Das ist aber nur eine Hypothese», sagt Reymond.

Und tatsächlich: Beim Vergleich der beiden Proben fand das Team Tausende genetische Unterschiede oder Mutationen. Es ist allerdings noch nicht klar, wie viele dieser Mutationen echt sind und wie viele auf Fehler bei der Erbgut­analyse zurückzuführen sind. In ein paar Monaten, hofft Reymond, sollen die «ersten paar Hundert Mutationen» bestätigt sein.

Die Arbeit ist dann aber noch lange nicht zu Ende. 28 weitere Proben warten auf eine genaue Erbgutanalyse. Erst danach könne man wichtige Fragen beantworten, sagt Reymond, wie etwa: Wie hoch ist die Mutationsrate in der Eiche? Wann passierten die Erbgutveränderungen? Und vor allem: Welche Gene erlauben es dem Baum, so lange zu leben, ohne durch die ständigen Angriffe ernsthaft Schaden zu nehmen?

Die Eiche behält diese Geheimnisse vorerst für sich. Sie hat ja auch Zeit, ein paar Hundert Jahre bestimmt noch. Mit gerade einmal 237 Jahren steht sie jedenfalls mitten im Leben, voll im Saft.

Der Artikel erschien am 17.5.2015 in der SonntagsZeitung